Die Reilstr. 48 war lange Zeit ein WG-freundlicher Ort. N. wohnt dort seit 2008, zunächst in einer WG, später mit ihrer Familie in einer 4-Raum-Wohnung. Der Wohnraum ist günstig, die Lage zentral und der Kontakt zum Vermieter freundlich und unbürokratisch. Im Gegenzug für den günstigen Wohnraum übernehmen die Mietenden eigenständig Reparaturen und kleinere Instandhaltungen.
Aber das Haus ist Sanierungsbedürftig (Elektrik, Wasser, Abwasser) es gibt schiefe Böden, Risse im Treppenhaus und Probleme mit der Statik – es kommt zum Verkauf.
Der erste Käufer verkauft das Gebäude schon innerhalb eines Jahres weiter. Der neue Besitzer trifft sich mit den Mietparteien und kündigt Sanierungen an. Schnell wird deutlich, dass es sich nicht um reine Instandhaltung, sondern um Luxussanierungen dreht, den Mietenden wird klar, dass sich die Miete dadurch massiv erhöhen und sie sich die Wohnungen nicht mehr leisten können. Sie zeigen sich gesprächsbereit, suchen den Kontakt und laden den Käufer abermals ein.
Im März 2020 kommt es zu einer sogenannten Verwertungskündigung schriftlich zu November 2020. Die Kündigungsfrist beträgt aufgrund des alten Mietvertrages Kündigungsfrist von 9 Monate. Die Mietenden suchen Rat beim Mieterbund und legen mit Unterstützung eines Anwalts Widerspruch mit Härtefallerklärung ein.
Der Käufer bietet den Mieter*innen 5000 € Umzugshilfe pro Wohneinheit per E-Mail. Im Januar 2021 reicht er eine Räumungsklage ein, die Mieter*innen gehen in Widerspruch. Ab jetzt laufen alle Verhandlungen über Anwälte.
Einige Mieter*innen lassen sich auf Abfindungen ein und erhalten zwischen 7.000 und 10.000 € für ihren Auszug.
Nur zwei Familien bleiben und kämpfen weiter dafür, dass ihr Wohnraum bezahlbar bleibt. Sie leben schon lange mit ihren Familien in diesen Wohnungen und haben vieles eigenständig gebaut, sie wollen ihren Wohn- und Lebensraum nicht einfach aufgeben.
Im Mai 2021 kommt es zu unangekündigten Bauarbeiten mit Deckendurchbruch, der Besitzer droht, die Gasversorgung einzustellen und die Schornsteine abzubrechen. Gegen diese Einschüchterungsversuche erwirken die Mietenden zwei einstweilige Verfügungen
Am 24.09.2021 kommt es zur Gerichtsverhandlung der Räumungsklage. Sie wird abgewiesen und verkündet, dass der Mietvertrag Bestand hat und die Kündigung nicht rechtswirksam ist.
Der Besitzer akzeptiert das Urteil und geht nicht in Revision.
Eine der beiden Familien lässt sich auf eine Güteverhandlung ein und einigt sich auf eine Abfindungssumme von über 20000 €. Sie haben keine Kraft mehr für den langen Kampf und entscheiden sich für die Abfindung in der Hoffnung auf einen sicheren Wohnraum.
Eine Familie führt den Mietkampf weiter und gewinnt.
Sie bleiben Mieter*innen und behalten den Anspruch auf die Wohnung.
Bis die Reilstr. 48 wieder sicher bewohnbar ist, ist die Familie vorübergehend umgezogen. Seit Dezember 2021 gab es keine weiteren Baumaßnahmen.
Neben finanziellen Auswirkungen des Mietkampfes wie Selbstbeteiligung bei Gerichtskosten, Mitgliedschaft im Mieterbund und Doppelmiete durch den Umzug nach dem Deckendurchbruch, ist der Kampf um die Wohnung für N. und ihre Familie vor allem eine psychische Belastung.
Der Mietstreit läuft parallel zum Alltag und ist neben Familienleben, Beruf und Studium kaum zu bewältigen. Und der Kampf ist lang. Prozesse und Verhandlungen ziehen sich endlos hin, während die Belastung durch Ungewissheit und Stress immer mehr zu nimmt. Jede Klageschrift löst im ersten Moment einen Schock aus und stellt die Entscheidung zu bleiben und weiter zu kämpfen immer wieder auf die Probe. Drohungen per E-Mail und unangemeldete Bauarbeiten zerren zusätzlich an den Nerven. Die Sicherheit des Wohnraums ist nach dem Deckendurchbruch nicht mehr gewährleistet und die Wohnung stellt eine Gefahr dar – nicht daran zu denken, mit Kindern dort länger zu wohnen.
Es fehlt an Unterstützungsangeboten, Informationen und Austausch mit Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Letztendlich haben N. und ihre Familie nur so lange durchgehalten, weil lange Zeit noch eine andere Familien den Weg mit ihnen gegangen ist und sie nicht alleine waren mit allen Entscheidungen. Am Ende sind sie stolz darauf, was sie geleistet und für ihren selbstgewählten Wohnraum gekämpft haben.